Schatten der Flügel
Friederike Schir
Poetische Abbildungen von Flügeln in Kombination mit technischen Fluggeräten präsentiert Ayelet Carmi in der Ausstellung Schatten der Flügel. Blaue Federn wirken wie an filigrane Knochen gelegt. Von Grau in Grün changierende Farbtöne ergießen sich wie ein meterhoher Wasserfall in den Raum. Silbern glänzende geometrische Elemente bieten Orientierung, werden zu Anzugspunkten für den Blick des Betrachters.
Carmi nimmt uns mit in eine Welt, die sich dem Traum vom Fliegen verschrieben hat. Eine zentrale Rolle spielen dabei Federn und Flügel, denn oft ist ihre Struktur Ausgangspunkt für die Malereien. In der bildenden Kunst sind Flügel vielfach genutzte Elemente, beispielhaft seien hier Marc Chagall, der israelische Künstler Motti Misrachi oder die deutsche Künstlerin Rebecca Horn genannt. Auch in Kultur und Religion finden wir Flügel als wiederkehrende Bilder und Metaphern. In den Psalmen ruft David im Moment der Angst und Verzweiflung seinen Gott an, will Zuflucht suchen unter dem Schatten seiner Flügel.[1] Der Flügel beinhaltet ein Element des Schutzes und des Trosts, wird häufig als Zeichen für die Allgegenwart Gottes gesehen. Auch Chaim Nachman Bialik, der oft als israelischer Nationaldichter bezeichnete Poet, bietet einen solchen Blickwinkel, wenn er schreibt: „Nimm mich unter deinen Flügel, sei mir Mutter, sei mir Schwester…“[2] Er schreibt von Liebe und Schutz, welche besonders in Momenten des Scheiterns oder der Erkenntnis der eigenen Vergänglichkeit notwendig werden.
Carmi bezieht sich jedoch nicht nur auf eine Schutzfunktion der Flügel, vielmehr malt sie ein Plädoyer für die menschliche Emanzipation. Ihre Figuren nehmen das Schicksal selbst in die Hand, indem sie Flugeräte konstruieren um den Traum vom Fliegen Wirklichkeit werden zu lassen. Stark und mutig kombinieren sie Zahnräder mit Gestängen aus Holz und Knochen, schrecken nicht davor zurück den eigenen Körper einzusetzen, binden sich an Konstruktionen. Die Malereien sind visueller Ausdruck eines Traums, der durch das Probieren technischer Möglichkeiten realisiert werden soll. Flügel tragen die Phantasie; das Handwerkszeug erhöht die Tragfähigkeit.
Der Traum vom Fliegen und der Impuls des Menschen Wege zu finden ihn zu verwirklichen zieht sich durch alle Epochen. Reflektionen über den Vogelflug inspirierten im 16. Jahrhundert Leonardo da Vinci zu technischen Zeichnungen und im 19. Jahrhundert Louis Mouillard sowie Otto Lilienthal zu zahllosen Selbstversuchen. Jules Vernes forderte die Grenzen technischer Möglichkeiten durch Phantasiereisen hinaus, Phantasien die zum Teil heute bereits Realität sind. So dient die Natur als Inspirationsquelle und der menschliche Geist als Katalysator in der Verwirklichung des uralten Traums.
In einem Wechselspiel von Natur und Technik sind Carmis Figuren hin und her gerissen zwischen Zweifel und Zuversicht, zwischen Resignation und Hoffnung. Die Sehnsucht nach Höhe ist gepaart mit der Angst vor der Höhe. Fliegen verheißt Momente der Freiheit und des Abenteuers. Gleichzeitig drängt sich jedoch die Geschichte des Ikarus ins Bewusstsein. Ikarus, der mit den selbst gebauten Flügeln der Sonne zu nah kam und abstürzte. Der Moment des Scheiterns ist immer eine reale Möglichkeit. So balanciert Carmi in ihren Bildern gekonnt auf dem schmalen Grad zwischen Poetik und Technik, Leichtigkeit und Schwere, Leben und Tod.
Die einzelnen Elemente der Bilder wirken oft filigran und zerbrechlich, doch zusammen werden sie zu einer kraftvollen Einheit. Erst die Kombination von Federn, Knochen, Bolzen und Holzleisten lässt Vogelschwingen und Fluggeräte entstehen, das harmonische Zusammenspiel ist Voraussetzung für ein Funktionieren. Dies spiegelt sich auch in Technik und Präsentation der Malereien. Carmi trägt dünne Farbschichten auf transparente Folien auf. Diese werden Schicht um Schicht übereinander gelegt, so dass neue Strukturen und visuelle Einheiten entstehen.
Die Künstlerin bemalt Tag für Tag eine Folie, so dass die Arbeit fast den Charakter eines (Flug-) Tagebuchs bekommt. Ähnlich wie menschliche Erinnerungen, die zu einem bestimmten Grad neu strukturierbar sind, lassen sich die Folien immer wieder anders kombinieren und übereinander schichten. Im Dialog mit der Umgebung schafft Carmi ortsspezifische Installationen, welche Malereien auf klassischen Formaten mit den Eigenheiten von Wandzeichnungen verbinden. Sie laden den Betrachter ein den Gesamteindruck von Raum und Kunstwerk zu erfassen, sich in den Details der Malereien zu verlieren, eigenen Gedanken schweifen zu lassen.
Friederike Schir,
Leiterin von schir – art concepts
1. Ps, 17,8; 36,8.
2. Chaim Nachman Bialik: Shirim, Dvir Publishing House, 1966.